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T. Kulhanek: Rechtsfrieden

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Die im Strafrecht wohl am häufigsten gestellte und mit unterschiedlichen Antworten versehene Frage ist die nach den angestrebten Zielen, nach Sinn und Zweck von Verfahren und Urteil. Je nach der Zielsetzung des Antwortenden bietet sich eine gewisse Bandbreite an – auf der praktischen Seite von der Wiedergutmachung des angerichteten Unrechts bis zur (repressiven oder präventiven) Verhinderung der Begehung weiterer Straftaten, auf der abstrakten Seite von Vergeltung bis zur Wahrung bzw. Wiederherstellung des Rechtsfriedens. Letzterer ist Gegenstand dieser als Habilitationsschrift der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg selbstverständlich wissenschaftlichen, in der Klarheit von Sprache und Gedankenführung aber auch dem Praktiker nützlichen und dem Nicht-Juristen verständlichen Schrift. Zunächst befasst sich der Autor in einem Allgemeinen Teil mit dem Inhalt des Begriffes an sich, den er als Urzustand von Ausgeglichenheit, Respekt und Zufriedenheit in einer demokratischen Ordnung bezeichnet, deren Störung durch eine Straftat mithilfe des Strafverfahrens wieder in den ursprünglichen (friedlichen) Zustand gebracht werden soll. Dazu muss dieser Friede im Recht selbst bereits verankert sein, der ggf. gegen den Willen des Einzelnen rechtskonform durchgesetzt und von der Bevölkerung akzeptiert werden muss. Im Besonderen Teil werden die praktischen Mittel zur Verwirklichung dieser Idee, d. h. konkret die Ausgestaltung des Strafrechts und des Strafverfahrens betrachtet. Dazu gehören die Verfahrensrechte des Beschuldigten ebenso wie die Angemessenheit von Strafen und anderen Rechtsfolgen, aber auch die Akzeptanz der Entscheidung durch Teilhabe des Geschädigten (z. B. Nebenklage, Täter-Opfer-Ausgleich) und der Gesellschaft (Transparenz durch Öffentlichkeit und mediale Berichte, Mitwirkung an Verfahren und Entscheidung). Zum letzten Punkt setzt sich der Verfasser auch mit dem Thema auseinander, das unsere Leser am meisten beschäftigen wird – die Teilhabe des Souveräns am Verfahren, in dessen Namen jedes Urteil ergeht. Die Beteiligung ehrenamtlicher Richter am Verfahren bezeichnet der Autor als „gleichsam gelebte Rechtstradition“, mit der gesellschaftliche Eindrücke Eingang in die gerichtlichen Erfahrungen und – im Gegenstrom – zurück in die Gesellschaft finden. Am Beispiel der Wirtschaftsstrafverfahren wirft er die Frage auf, ob die Ehrenamtlichen nicht an ihre Grenzen stoßen. Gerade unter dem Aspekt des Rechtsfriedens wäre jetzt der Gedanke zu verfolgen, ob spezielle Strafverfahren nicht auch spezielle ehrenamtliche Beisitzer benötigen, die über Qualifikationen bzw. Berufserfahrungen verfügen, die die übergroße Zahl der Berufsrichter nicht hat, weil sie z. B. ein Unternehmen noch nie von innen gesehen haben. In diesem Zusammenhang ist die Schlussfolgerung zum Strafbefehlsverfahren zu betrachten, wenn der Autor keine Gefahr einer „Geheimjustiz“ sieht, sondern nur ein „Angebot“ an den Angeklagten. Das Strafbefehlsverfahren dient – neben der schnellen Erledigung – häufig dazu, Prominente oder – nach Erfahrung des Rezensenten – aus der Justiz stammende Beschuldigte aus der Wahrnehmung durch die Öffentlichkeit herauszunehmen. Auch die Einschätzung, es sei beklagenswert, wenn bei einer Verständigung nach § 257c StPO „mitunter bloß versehentliche formale Fehler trotz aufrichtigen Bemühens zur Aufhebung des Urteils in der Revision führen können“, müsste nach der rechtstatsächlichen Forschung zur Umgehung der gesetzlichen Regeln bei der Beteiligung von Schöffen gerade unter dem Aspekt des Öffentlichkeitsprinzips einer kritischen Prüfung unterzogen werden (vgl. Altenhain/Jahn/Kinzig, Die Praxis der Verständigung im Strafprozess, 2020; Iberl/Kinzig, Die Rolle der Schöffen bei Absprachen im Strafprozess, 2023). Die Botschaft auf Seite 207, dass „Effizienz und Fairness (…) nicht gegeneinander ausgespielt werden“ dürfen, ist eine Mahnung an Gesetzgeber wie Rechtsprechung. (hl)


Zitiervorschlag: Hasso Lieber, T. Kulhanek: Rechtsfrieden [Rezension], in: LAIKOS Journal Online 1 (2025) Ausg. 1, S. 32-33.

Über die Autoren

  • Geschäftsführender Gesellschafter PariJus gGmbH, Rechtsanwalt, Staatssekretär a. D., Generalsekretär European Network of Associations of Lay Judges, 1993 bis 2017 Vorsitzender Bundesverband ehrenamtlicher Richterinnen und Richter e. V., 1989 bis 2022, Heft 1 Redaktionsleitung „Richter ohne Robe“

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