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BGH: Vollständige Verlesung der Anklageschrift

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Durch das Verlesen der gesamten Anklageschrift – statt nur des Anklagesatzes – werden Schöffen in der Regel nicht so stark beeindruckt, dass sie das Ergebnis der Beweisaufnahme nicht mehr unbefangen aufnehmen können. Von den Schöffen als gleichberechtigten Richtern kann erwartet werden, sowohl die Berichterstattung als auch die Wertungen der Verfahrensbeteiligten sachgerecht einzuordnen. (Leitsatz d. Red.)

Sachverhalt: Der Angeklagte – wegen Vergewaltigung vom LG zu Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt – macht mit der Revision geltend, durch die Staatsanwältin sei nicht nur der Anklagesatz (§ 243 Abs. 3 Satz 1 StPO), sondern die gesamte Anklageschrift mit dem wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen verlesen worden. Damit sei der Grundsatz der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit verletzt. Die Verfahrensrüge greift nicht durch.

Gründe: Der Senat schließt angesichts des Verfahrensablaufs aus, dass Berufsrichter und Schöffen die Schuld des Angeklagten – beeinflusst von der vollständig verlesenen Anklageschrift – nicht allein aufgrund des Ergebnisses der Hauptverhandlung festgestellt haben. Der Angeklagte hat in der Hauptverhandlung geschwiegen und seine Einlassung aus dem Ermittlungsverfahren wird im Urteil nicht erwähnt. Es wird auch ausgeschlossen, dass sich die Würdigung der Aussage der Nebenklägerin durch die Staatsanwaltschaft im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen auf die Urteilsfindung ausgewirkt hat. Die Schöffen werden durch einmaliges Verlesen nicht so beeindruckt, dass sie das Ergebnis der Hauptverhandlung nicht mehr unbefangen aufnehmen können. Die Strafkammer hat die Nebenklägerin als Zeugin eingehend vernommen und die Entstehung der Aussage im Ermittlungsverfahren umfassend rekonstruiert. Von den Schöffen kann nach Auffassung des Senats als gleichberechtigte Richter in der heutigen Informationsgesellschaft – ggf. mit Unterstützung der Berufsrichter – erwartet werden, sowohl Berichterstattung und Wertungen der Verfahrensbeteiligten sachgerecht einzuordnen. Dass sie bei dem konkreten Verfahrensverlauf ihr Urteil nicht mehr allein aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung geschöpft haben, schließt der Senat deshalb aus.

Anmerkung: Die Rechtsprechung trennt sich sukzessive vom rigiden Verbot jeglicher Kenntnisnahme der Akten durch die Schöffen. Der Gesetzgeber hat mit Einführung des Selbstleseverfahrens selbst die Tür zu den Akten geöffnet (vgl. den Beitrag in dieser Ausgabe S. 44). 1997 stellte der BGH fest, dass es grundsätzlich der gebotenen Gleichstellung der Schöffen mit den Berufsrichtern widerspreche, „sie von jeglicher unmittelbaren Kenntnisnahme aus den Akten auszuschließen“ (Urteil vom 26.3.1997, Az.: 3 StR 421/96). Die letzte Bastion, die Kenntnis des wesentlichen Ergebnisses der Ermittlungen aus der Anklageschrift mit der Auffassung der Staatsanwaltschaft vom hinreichenden Tatverdacht gegen den Angeklagten, wurde vom EGMR mit der Entscheidung vom 12.6.2008 (Az.: 26771/03) infrage gestellt. Diesen Weg geht der BGH jetzt weiter, indem auch er die Gleichstellung der Schöffen betont. Der Hinweis sollte von den kommunalen Gremien und Vertretern zum Anlass genommen werden, die Aufstellung der Vorschlagslisten und die Wahl geeigneter Personen an dieser Erwartung zu orientieren. Prozessual darf allerdings nicht aus den Augen verloren werden, dass die anfängliche Unkenntnis der Akten auch einen Vorteil insoweit darstellt, als Schöffen unbefangen Fragen zur Sachverhaltsfeststellung stellen können. Einer vor Beginn der Beweisaufnahme umfassenden Akteneinsicht durch die Schöffen wird insoweit nicht das Wort geredet. Eine Ausgewogenheit könnte eine Neuformulierung der Nr. 126 RiStBV herstellen. (hl)

Link zum Volltext der Entscheidung


Zitiervorschlag: BGH: Vollständige Verlesung der Anklageschrift, in: LAIKOS Journal Online 3 (2025) Ausg. 2, S. 67-68.

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