„Erlaubte“ und „informelle“ Verständigung“ – Welche Rolle spielen die Schöffen?
Hasso Lieber
Abstract
Verständigungen im Strafverfahren sind Ausdruck kommunikativer Verhandlungsführung, können aber auch die Mitwirkung von Schöffen in der Hauptverhandlung einschränken. Der Artikel erläutert die Entstehung sowie den zulässigen Umfang und Inhalt einer Verständigung. Viele Berufsrichter halten sich nicht an die gesetzlichen Vorgaben. Dagegen sind Schöffen nicht hilflos, wenn sie Kenntnis vom gesetzlich vorgesehenen Ablauf, den Verstößen gegen das Gesetz und ihren Möglichkeiten zur Einflussnahme haben.
Negotiated agreements in criminal procedure are an expression of communicative proceeding, but they may limit the participation of lay judges in the main hearing. The article explains the origin, permissible scope, and content of a settlement. Many professional judges do not adhere to the legal requirements. However, lay judges are not helpless if they are aware of the legally prescribed procedure, violations of the law and their options for exerting influence.
I. Einleitung
1. Begriff der Verständigung
Der Strafprozess ist vom Amtsermittlungsgrundsatz geprägt. Dieser Grundsatz bedeutet, dass das Gericht verpflichtet ist, die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, die für die Erforschung der Wahrheit von Bedeutung sind (§ 244 Abs. 2 StPO). Die Staatsanwaltschaft erhebt aufgrund ihrer Ermittlungen eine Anklage. Die Verteidigung hat ein eigenes Recht, durch Beweisanträge die Beweisaufnahme zu ergänzen oder zu steuern. Die Bestimmung des Umfanges der Beweisaufnahme liegt beim Gericht. Im Laufe der Zeit haben sich – amerikanischem Vorbild folgend – einvernehmliche Methoden zur Verfahrenssteuerung bis zur Urteilsbildung und -gestaltung entwickelt. Die Verständigung wird heute als eine vertragsähnliche Vereinbarung im Strafverfahren betrachtet, bei der das Gericht einen Vorschlag zum weiteren Fortgang des Verfahrens und zu dessen Ergebnis macht (§ 257c Abs. 1 StPO), der der Zustimmung der Verfahrensbeteiligten (Verteidiger, Staatsanwalt, nicht notwendig eines Nebenklägers) bedarf. Gericht wie Beteiligte können in einem „verständigungsbezogenen Erörterungsgespräch“ eine Verständigung vorbereiten, die keine Bindung erzeugt, aber gleichwohl transparent gemacht werden muss.
2. Vorgeschichte der gesetzlichen Regelung
Die Verständigung – umgangssprachlich auch als „Absprache“ oder eher abschätzig als „Deal“ bezeichnet – hat sich zunächst über Jahrzehnte seit den 1970er-Jahren – vielfach kritisiert – in der gerichtlichen Praxis ohne gesetzliche Grundlage entwickelt. 1982 richtete Rechtsanwalt Prof. Dr. Hans-Joachim Weider unter dem Pseudonym „Detlef Deal aus Mauschelhausen“ in der Zeitschrift Strafverteidiger das Augenmerk der Öffentlichkeit auf die Praxis informeller (soll heißen: heimlicher) Absprachen. Diese fanden vor allem in Wirtschafts- oder Betäubungsmittelverfahren statt, deren Beweisaufnahmen naturgemäß komplex und damit zeitaufwendig sind. Nach diesem Artikel wurde offener über das Phänomen berichtet und diskutiert, das fast jeder Richter, Staatsanwalt und Verteidiger kannte, aber ungern öffentlich darüber sprach. Gericht und Beteiligte hatten im Ergebnis häufig gleiche Interessen an einer Absprache, die dann meistens lautete „Geständnis gegen Strafnachlass“. Die Justiz sparte sich eine zeitintensive Beweisaufnahme, in der Regel auch eine zweite Instanz; der Angeklagte kam nicht nur preiswerter davon, sondern vermied zudem – insbesondere als Prominenter – eine größere Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit, insbesondere der Medien. 1993 untersagte der BGH solche Absprachen noch, beugte sich aber 1997 der nicht mehr zu verhindernden Praxis.1 Durch die Grundsatzentscheidung des Großen Senates des BGH2 im Jahre 2005 wurde der Deutsche Bundestag zu einer gesetzlichen Regelung der Verständigung veranlasst,3 wobei er weitgehend die Grundsätze der vom BGH entwickelten Rechtsprechung in Gesetzesform goss.
3. Verständigung vor der Hauptverhandlung
Die Möglichkeit zur Verständigung besteht in allen Phasen des Strafverfahrens. Im Ermittlungsverfahren kann mit der Staatsanwaltschaft eine Verständigung erörtert und vereinbart werden (§ 160b StPO), z. B. eine Verfahrenseinstellung (§§ 153 ff. StPO), ein Täter-Opfer-Ausgleich (§ 155a StPO) oder die Erledigung des Strafverfahrens im Wege des Strafbefehls. Angesichts dieser umfassenden Möglichkeiten der einvernehmlichen Erledigung eines Strafverfahrens sprechen in der Literatur Autoren von der Konsensmaxime4, die neben die Amtsermittlung tritt – zugleich aber auch von einer „Flucht in die Opportunität“5, die durchaus schwerwiegendere Verfahren der späteren Mitwirkung der Schöffen entziehen können.
Nach Anklageerhebung können Kontakte zur Vorbereitung einer Verständigung aufgenommen werden, sobald das Gericht beabsichtigt, das Hauptverfahren zu eröffnen (§ 202a StPO), oder nach dem Beschluss über die Eröffnung des Hauptverfahrens (§ 212 StPO). Im Hinblick auf Entscheidungen in der kommenden Hauptverhandlung erzeugen diese Kontakte keine Bindungswirkung. Alle Entscheidungen im Laufe der Hauptverhandlung trifft „das Gericht“ in der Besetzung der Hauptverhandlung, soweit nicht einzelne Entscheidungen von Gesetzes wegen ausdrücklich den berufsrichterlichen Mitgliedern vorbehalten sind. In der Praxis erfahren die Schöffen aber oft genug, dass schon im Vorfeld der Hauptverhandlung ein Ergebnis be- und abgesprochen wurde, wodurch ihre gesetzlich vorgesehenen Möglichkeiten der Mitwirkung eingeschränkt werden (s. u. II. 2. a.).
II. Verständigung in der Hauptverhandlung
1. Förmlicher Ablauf
Die Verständigung kann damit beginnen, dass das Gericht „den Stand des Verfahrens mit den Verfahrensbeteiligten“ erörtert (§ 257b StPO). Solche Gespräche entsprechen einer offenen und kommunikativen Verhandlungsführung.6 Das Gericht kann sich dann – nach interner Willensbildung – „in geeigneten Fällen mit den Verfahrensbeteiligten […] über den weiteren Fortgang und das Ergebnis des Verfahrens verständigen“ (§ 257c Abs. 1 Satz 1 StPO), indem es den Inhalt einer möglichen Verständigung bekannt gibt (§ 257c Abs. 3 StPO). Die Verfahrensbeteiligten erhalten Gelegenheit zur Stellungnahme, können aber von sich aus ebenfalls die Initiative zu einer Verständigung ergreifen. Zustande kommt die Verständigung, wenn Angeklagter (Verteidigung) und Staatsanwaltschaft dem vom Gericht vorgeschlagenen Rahmen zustimmen. Die zulässige Reichweite der Verständigung regelt § 257c Abs. 2 StPO: Gegenstand sind die zulässigen Rechtsfolgen (ohne die Maßregeln der Besserung und Sicherung), verfahrensbezogene Maßnahmen sowie das Prozessverhalten der Verfahrensbeteiligten. An die mitgeteilte Verständigung ist das Gericht grundsätzlich gebunden. Die Bindung entfällt nur, „wenn rechtlich oder tatsächlich bedeutsame Umstände übersehen worden sind oder sich neu ergeben haben und das Gericht deswegen zu der Überzeugung gelangt, dass der in Aussicht gestellte Strafrahmen nicht mehr tat- oder schuldangemessen ist“ oder „das weitere Prozessverhalten des Angeklagten nicht dem Verhalten entspricht, das der Prognose des Gerichtes zugrunde gelegt worden ist“ (§ 257c Abs. 4 StPO).
2. Geltung der Verfahrensgrundsätze
a. Die tragenden Grundsätze des Strafverfahrens bleiben im Rahmen der Verständigung erhalten. Vor allem der Amtsermittlungs- oder Untersuchungsgrundsatz, wonach das Gericht von Amts wegen die Wahrheit festzustellen und die erforderlichen Beweiserhebungen zu tätigen hat, bleibt unberührt (vgl. § 257c Abs. 1 Satz 2 StPO). Ein schlichter „Deal“, dass der Angeklagte ein Geständnis ablegt und das Gericht auf dieser Basis bei Verzicht auf weitere Beweiserhebungen sein Urteil fällt, ist unzulässig. Ebenso kann sich der Angeklagte nicht darauf beschränken zu erklären: „Was in der Anklage steht, ist richtig“ und darauf das Urteil gestützt wird. Das Gericht hat sich von der Wahrheit auch eines qualifizierten Geständnisses zu überzeugen. Das Geständnis ist regelmäßig Gegenstand einer Verständigung, muss vom Gericht aber auf den Wahrheitsgehalt geprüft werden. Es kann erst dann zur Grundlage der Beweiswürdigung gemacht werden, wenn keine berechtigten Zweifel mehr an der Schuld des Täters bestehen.7 Sind wesentliche Darstellungen falsch, belastende Tatsachen geschönt oder weggelassen? Schon die gleichberechtigte Teilnahme der Schöffen an der Hauptverhandlung verlangt diese Prüfung, da sie über die Kenntnis des verlesenen – evtl. ausgehändigten – Anklagesatzes (ggf. der Anklageschrift8) hinaus keine Kenntnis (etwa aus den Akten) haben. Sie müssen sich ein eigenes Urteil bilden über das tatsächliche Geschehen als Grundlage für ihre Auffassung von Schuldspruch und Rechtsfolgen (Grundsatz der freien richterlichen Überzeugungsbildung, der ebenfalls durch die Verständigung nicht eingeschränkt wird).
Dass dies von den Berufsrichtern nicht immer akzeptiert wird, beweisen von Schöffen geschilderte praktische Beispiele:
Im Anschluss an die Verlesung der Anklage sei der Sachverhalt nur noch kurz mit der Verteidigung besprochen worden. Als die Schöffin zum Sachverhalt noch eine Frage an den Angeklagten richten wollte, wurde die Sitzung unterbrochen und ihr im Beratungszimmer erklärt, jetzt ginge es nur noch um die Strafe.
In einem weiteren Fall wegen Menschenhandels, Vergewaltigung und anderer Delikte waren bereits im Vorfeld vier Jahre Freiheitsstrafe und die Aufhebung der U-Haft gegen Kaution verabredet worden. Der Vorsitzende hielt die Geschädigten – zwei junge polnische Prostituierte – als Zeuginnen von vornherein für unglaubwürdig. Die Schöffen durften sich in der Beratung nur noch zum Strafmaß äußern.
Auf diese Weise wird nicht nur die Funktion der Schöffen sinnentleert, auch die Prozessprinzipien der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit, die eine Kontrolle durch die Öffentlichkeit ermöglichen sollen, werden auf „Null gestellt“. Die Beispiele zeigen entgegen der oben beschriebenen Gesetzlichkeit Verstöße gegen die Regeln der Verständigung auf. Der Vorab-Einigung wird eine Bindungswirkung zugemessen, die sie nach dem Gesetz nicht hat. Eine solche Verständigung wird als „informell“ bezeichnet, was nichts anderes als „unzulässig und rechtswidrig“ bedeutet.
Der vormalige Vorsitzende Richter am BGH Thomas Fischer hat dazu – völlig zu Recht in dieser gebotenen Klarheit – den Begriff der Rechtsbeugung ins Spiel gebracht:
Es ist nicht erträglich, dass Richter, die geschworen haben, jederzeit nach Recht und Gesetz zu entscheiden, bei vorsätzlichen Gesetzesbrüchen von jeder strafrechtlichen Verantwortung freigestellt werden, wenn sie nur beteuern, sie hätten das für „gerecht“ gehalten. Diese Privilegierung der Rechtsbeugung […] ist weder für die Unabhängigkeit der Justiz erforderlich noch für das Vertrauen in die Justiz nützlich.9
b. Die Mitwirkung der Schöffen wird von § 257c StPO nicht berührt. Weder ihr Status noch ihre Einflussmöglichkeiten werden durch die Verständigung oder ihr Zustandekommen beeinträchtigt – so die Theorie. Welche Möglichkeit haben Schöffen zu erfahren, ob es im Vorfeld der Hauptverhandlung bereits zu einer Verständigung gekommen ist? Hier gilt es, schon zu Beginn der Verhandlung aufmerksam zu sein. Verständigungsgespräche sind in das Sitzungsprotokoll aufzunehmen, auch wenn sie außerhalb der Hauptverhandlung geführt wurden. Wenn keine Vorgespräche geführt worden sind, ist ein sog. Negativattest zu protokollieren (§ 273 Abs. 1a, Satz 3 StPO), d. h. der Vorsitzende muss auch zu Protokoll geben, dass außerhalb der Hauptverhandlung Verständigungsgespräche nicht stattgefunden haben.10 Die Negativerklärung macht für Öffentlichkeit wie Beteiligte nur zu Beginn der Verhandlung Sinn, weil sie von einer umfassenden Beweisaufnahme ausgehen. Wird zu Beginn der mündlichen Verhandlung nichts über eine Verständigung zu Protokoll gegeben, können Schöffen fragen, ob das bedeute, dass es keinerlei Gespräche vorab gegeben habe. Dass ihnen die Mitwirkung an der Beweisaufnahme bei der Feststellung der Tatsachen – wie in den oben zitierten Beispielen – schlicht entzogen wird, ist unzulässig.
Jahn vertritt die Auffassung, dass das Zusammenspiel von Amtsaufklärung und Konsensmaxime „praxistauglich interpretiert“ werden müsse.11 Was das hinsichtlich der Schöffen konkret bedeutet, wird nicht weiter erläutert. Da Berufsrichter, Staatsanwalt und Verteidiger die Akten kennen, können sie auf Wissen zurückgreifen, das die Schöffen nicht haben.
c. Auch der Grundsatz der Unschuldsvermutung i. V. m. „Im Zweifel für den Angeklagten“ wird durch die Verständigung nicht eingeschränkt. Wenn sich generell Zweifel an der Schuld des Angeklagten ergeben, ist er freizusprechen. Dass dagegen aus Gründen der Opportunität verstoßen werden kann, zeigen Bewertungen des Verfahrens gegen den ehemaligen Formel-1-Chef Ecclestone wegen Bestechung, das 2014 nach § 153a StPO (also einvernehmlich) beim Landgericht München gegen Zahlung einer Rekordauflage von 100 Millionen US-Dollar eingestellt wurde. Damals wurde neben anderen Gründen auch darauf verwiesen, dass bei Weiterführung des Verfahrens und der Möglichkeit eines Freispruchs der Steuerzahler die immensen Kosten des Verfahrens hätte tragen müssen.12
d. Das Prinzip der Mündlichkeit und Öffentlichkeit erfährt naturgemäß eine gewisse Einschränkung, da die entscheidenden Gespräche – und damit wesentliche Bestandteile der mündlichen Verhandlung – häufig außerhalb des Sitzungssaales stattfinden. Zwar muss der Vorsitzende die Verständigung und Gründe wie Argumente öffentlich darlegen; in der Regel werden aber lediglich die Argumente mitgeteilt, die für die Verständigung sprechen. Das BVerfG hat zwar mehrmals darauf hingewiesen, dass die von der StPO gewollte Kontrolle durch die Öffentlichkeit nur ausgeübt werden könne, wenn sie die dafür erforderlichen Informationen erhalte. Aber wie heißt es so häufig im Richteralltag: „Karlsruhe ist weit“. Und über die Gespräche dürfen die Schöffen wegen des Beratungsgeheimnisses nicht öffentlich berichten.
3. Beschluss des Gerichts
a. Zentrales Organ der Verständigung ist das Gericht, nicht nur der Vorsitzende oder die Berufsrichter, sondern die vollständige Besetzung der Hauptverhandlung einschließlich der Schöffen. Das Gericht beschließt förmlich über seinen Vorschlag, ebenso über die Zustimmung zu einem davon möglicherweise abweichenden Ergebnis der Verständigungsgespräche. Der Beschluss bedarf, weil es sich um die Feststellung der Schuld und den Ausspruch einer Strafe handelt, der Zwei-Drittel-Mehrheit des Gerichts. Die Schöffen verlieren durch die Verständigung nicht ihre Sperrminorität gegen eine verurteilende Entscheidung oder gegen die Strafhöhe zugunsten des Angeklagten. Vorherige Besprechungen einzelner Mitglieder des Schöffengerichts oder der Strafkammer – etwa des Vorsitzenden oder des Berichterstatters – haben keinerlei Bindungswirkung, bevor nicht der Beschluss mit der erforderlichen Mehrheit zustande gekommen ist. Nach der Abstimmung und der Zustimmung durch Staatsanwaltschaft und Verteidigung entfaltet die Verständigung ihre Bindungswirkung. In den oben zitierten Beispielen ist in Wirklichkeit keine wirksame Verständigung zustande gekommen, weil sich der Wille der Schöffen nicht auf den Schuldspruch erstrecken konnte. Eine solchermaßen zustande gekommene Verständigung entfaltet nach inzwischen allgemeiner Auffassung in Literatur und Rechtsprechung keine Bindungswirkung.13 Sie verstößt gegen das Gebot eines fairen Verfahrens (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK).
b. Welche Möglichkeiten haben Schöffen, auf eine solche Verfahrensweise Einfluss zu nehmen? Letztlich wird ihnen zugemutet, ohne eigene Überprüfung des angeklagten Sachverhaltes einem Schuldspruch zuzustimmen, um daraus eine eigene Meinung zur Höhe der Strafe zu entwickeln. Sascha Sebastian vermutet, dass sich die Schöffen – mehr als ohnehin schon – einfach den Berufsrichtern anschließen müssten. Mit der Wahrnehmung von unabhängiger Richtertätigkeit habe dies nichts mehr zu tun.14 Die einzige Möglichkeit besteht darin, sich diesem Verfahren zu verweigern. Schließlich tut man nichts anderes, als auf einem gesetzeskonformen Verfahren zu bestehen. Stimmen die Schöffen einer solchen – in Wahrheit informellen – Verständigung nicht zu, kommt diese nicht zustande. Dieses Verhalten bedarf der Charakterfestigkeit, da mit großer Sicherheit Druck auf die Schöffen ausgeübt wird. Niemand kann sie jedoch zu einer rechtswidrigen Handlung zwingen. Auch als ehrenamtlicher Richter hat man eine eigene Meinung zu haben, die sich auf Beweise, nicht auf Absprache gründet.
Auf diese Gefahr im richterlichen Ehrenamt machte Thomas Fischer schon in der Anhörung zum Entwurf des Verständigungsgesetzes im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages aufmerksam, zu der er damals dem Frankfurter Schöffen Martin Overath schrieb: Wir sind uns einig. Die Verdrängung der Laienrichter ist in der ganzen Diskussion überhaupt noch nicht angemessen gesehen und erörtert worden; ich hatte versucht, darauf hinzuweisen. Man könnte nur raten, ggf. einfach nicht zuzustimmen. Aber das ist natürlich eine Forderung, die sich im Justizalltag praktisch kaum verwirklichen lässt.
4. Gegenstand der Verständigung
§ 257c Abs. 2 Satz 1 StPO nennt als zulässige Gegenstände der Verständigung die Rechtsfolgen, die durch das Urteil ausgesprochen werden können (d. h. die jeweilige Voraussetzung für die Rechtsfolge muss vorliegen), sonstige verfahrensbezogene Maßnahmen sowie das Prozessverhalten der Verfahrensbeteiligten. Zudem soll Gegenstand der Verständigung ein Geständnis des Angeklagten sein. Der Begriff „soll“ im Gesetzestext bedeutet „muss, mit der Möglichkeit, in begründeten Fällen eine Ausnahme machen zu können“. Das (wahrheitsgemäße) Geständnis ist also regelmäßig Bestandteil einer Vereinbarung, von der nur im Einzelfall abgesehen werden kann. Unter „Geständnis“ wird dabei in der allgemeinen Bedeutung nicht nur das Einräumen der angeklagten Tat verstanden, sondern auch das Einräumen von Tatsachen, aus denen Schlussfolgerungen hinsichtlich der Rechtsfolgen gezogen werden können.
a. Rechtsfolgen sind die
- Geld- bzw. Freiheitsstrafe sowie die damit in Verbindung stehenden Entscheidungen wie Zahlungserleichterungen oder Strafaussetzung zur Bewährung einschließlich der Auflagen und Weisungen;
- Nebenstrafe des Fahrverbots (§ 44 StGB);
- Nebenfolgen wie die Einziehung von Taterträgen bzw. deren Wert, wenn die „Beute“ bereits veräußert wurde (§§ 73 ff. StGB).
Hinsichtlich der Strafe ist zu beachten, dass keine punktgenaue Strafe vereinbart werden darf. Das Gericht hat nach einer Verständigung immer noch einen individuellen Spielraum zur Berücksichtigung der in der Hauptverhandlung festgestellten Umstände. Deshalb kann nur ein Strafrahmen in Form einer Ober- und Untergrenze der in Betracht kommenden Strafe vereinbart werden. Im Rahmen dieser Grenzen kann auch über bestimmte Umstände gesprochen werden, z. B. in welchem Umfang (nicht „ob“) eine überlange Verfahrensdauer bei der Straffestsetzung berücksichtigt wird (sog. Kompensation). Bei der Geldstrafe richtet sich deren Höhe nach den tatsächlichen wirtschaftlichen Verhältnissen, die insoweit einer einvernehmlichen Annahme jenseits dieser realen Verhältnisse weitgehend entzogen sind.
b. Bei den sonstigen verfahrensbezogenen Maßnahmen handelt es sich um eine Generalklausel, wonach Vereinbarungen über verfahrensfremde Maßnahmen nicht zulässig sind, z. B. die Zahlung rückständiger Steuern, die nicht Gegenstand des Verfahrens sind (Verbot des „Aufpackens“).
c. Unter das Prozessverhalten der Verfahrensbeteiligten fallen Anträge zur Beweiserhebung, Befangenheit oder zur Unterbrechung oder Aussetzung des Verfahrens. Auch die Zustimmung, anstelle einer Zeugenvernehmung eine Urkunde zu dem Beweisgegenstand zu verlesen, kann Gegenstand der Verständigung sein. Ein Schadenersatz des Angeklagten an den Geschädigten kommt ebenfalls in Betracht.
d. In Jugendstrafverfahren darf eine Verständigung erst ins Auge gefasst werden, wenn sich das Gericht – wegen des Erziehungscharakters des Jugendstrafrechts – einen hinreichenden Eindruck von der Persönlichkeit des Angeklagten verschafft hat. Bestimmte Regeln, z. B. über die Anwendbarkeit des Jugendstrafrechts auf Heranwachsende (§ 105 JGG) oder über eine wegen schädlicher Neigungen erforderliche Jugendstrafe, sind der Verständigung entzogen. Diese Fragen hat das Gericht nach eigener Erkenntnis zu entscheiden. Nur die Höhe der (erforderlichen) Jugendstrafe oder der Umfang der jeweiligen Sanktion nach dem JGG sind einer Verständigung zugänglich.
5. Unzulässige Gegenstände der Verständigung
Über Regelungen, die zwingend vorgeschrieben sind (z. B. die Mindeststrafe von einem Jahr bei einem Verbrechen, wenn nicht die gesetzlich vorgesehenen Milderungen vorliegen) oder vom Gesetz untersagt werden, kann keine Verständigung vereinbart werden. Neben den oben bereits genannten Verboten sind etwa die Maßregeln der Besserung und Sicherung (§§ 61 ff. StGB) ausdrücklich von einer Verständigung ausgenommen (§ 257c Abs. 2 Satz 3 StGB). Ebenso wenig kann das Geständnis auf bestimmte Bereiche beschränkt oder können einzelne Vorgänge ausgeschlossen werden, um erschwerende Umstände nicht zu erwähnen und den entsprechenden höheren Strafrahmen nicht anwenden zu müssen. Untersagt ist auch, einen Verzicht auf Rechtsmittel zum Gegenstand der Verständigung zu machen.
6. Wegfall der Bindung an die Verständigung
Eine Verständigung kann ihre Bindung verlieren, wenn sich im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung bedeutsame Umstände neu ergeben oder sich herausstellt, dass solche Umstände übersehen wurden. Wurde etwa vereinbart, dass der Angeklagte ein Geständnis ablegt, das sich nach der Vernehmung der geschädigten Person als unvollständig und beschönigend herausstellt, kann das Gericht – mit einfacher Mehrheit – das Abweichen von der Verständigung beschließen. Zwingende Folge dieses Beschlusses ist die Unverwertbarkeit des Geständnisses (§ 257c Abs. 4 Satz 3 StPO). Beabsichtigt das Gericht, von der Verständigung abzuweichen, muss es die Verfahrensbeteiligten hierüber unverzüglich informieren (§ 257c Abs. 4 StPO). Der Angeklagte ist über „die Voraussetzungen und Folgen einer Abweichung des Gerichts zu belehren“ (§ 257c Abs. 5 StPO). Für die Mitglieder des Gerichts, also auch für die Schöffen, bedeutet dies, dass sie den Nachweis für die Tat und die für die Schuld maßgebenden Umstände aus den Beweismitteln schlussfolgern müssen, ohne die Ausführungen des Angeklagten bei dem vorherigen „Geständnis“ in diese Schlussfolgerungen einfließen zu lassen. Dies erfordert eine erhebliche geistige Disziplin.
7. Transparenzgebot
Die StPO statuiert eine Reihe von Mitteilungs- und Protokollierungspflichten. So sind bereits vor der Hauptverhandlung geführte verständigungsbezogene Erörterungen in der mündlichen Verhandlung mitzuteilen (§ 243 Abs. 4 StPO) Das Protokoll der Hauptverhandlung muss das Ergebnis einer Verständigung nach § 257c StPO wiedergeben. Auch wenn eine Verständigung nicht stattgefunden hat, ist dies im Protokoll zu vermerken. Die Verständigung ist in den Urteilsgründen aufzuführen (§ 267 Abs. 3 Satz 5 StPO). Die Regeln sollen die Überprüfbarkeit des Verfahrens in der Revision sichern.
III. Evaluierung des Gesetzes
1. Vorgesetzliche Untersuchungen
Schon vor Erlass des Verständigungsgesetzes hatten im Jahre 2007 Altenhain/Hagemeier/Haimerl/Stammen die Praxis der Absprachen in Wirtschaftsstrafverfahren untersucht, indem sie in Nordrhein-Westfalen 42 Vorsitzende Richter von Wirtschaftsstrafkammern, 50 Staatsanwälte von Schwerpunktstaatsanwaltschaften für Wirtschaftskriminalität und 50 Rechtsanwälte mit einem Schwerpunkt der Verteidigung in Wirtschaftsstrafverfahren befragten.15 Die Befragten räumten ein, die Schöffen an den Absprachen nicht zu beteiligen, weil man ihre Unbefangenheit nicht gefährden wolle. Insbesondere die Richter äußerten zu über 25 % diese Besorgnis. Die Gespräche der Berufsjuristen wurden auch in Sitzungspausen der Hauptverhandlung geführt, bei denen auf eine Einbeziehung der – zu diesem Zeitpunkt anwesenden Schöffen – verzichtet wurde. Über den Inhalt der Gespräche wurden die Schöffen nach übereinstimmender Bekundung aller befragten Richter zu Beginn der Hauptverhandlung bzw. bei Wiederbeginn nach einer Verständigung im Laufe der Hauptverhandlung informiert. Dem Gesetzgeber war diese Problematik also bekannt.
2. Bundesverfassungsgericht
2013 stellte das BVerfG § 257c StPO auf den Prüfstand.16 Anlass waren drei Verfahren, in denen den jeweils erkennenden Gerichten verfassungswidriges Verhalten attestiert wurde. Das BVerfG hat die gesetzlichen Regeln generell daraufhin geprüft, ob sie den Mindestanforderungen der Verfassung genügen. Mit Blick auf die Schöffen wurde festgestellt, dass sie in der Hauptverhandlung unmittelbar einzubinden, im Übrigen nach § 243 Abs. 4 StPO umfassend zu unterrichten sind. Nur so sei ihnen eine eigene Entscheidung möglich, etwa über die Strafober- und -untergrenze bzw. über den Inhalt des (mit oder ohne Verständigung) ergehenden Urteils. § 257c StPO weise die Verständigung ausschließlich „dem Gericht“ zu, nicht nur dem Vorsitzenden oder den Berufsrichtern. Damit sei ausgeschlossen, dass ohne Beteiligung der Schöffen Strafgrenzen mit der Bindung des § 257c Abs. 4 StPO in Aussicht gestellt werden.
Das BVerfG hielt das Gesetz für verfassungsrechtlich „noch ausreichend“, mahnte aber: „Außerhalb des gesetzlichen Regelungskonzepts erfolgende sogenannte informelle Absprachen sind unzulässig.“ Grundlage eines Urteils sei weiterhin „allein und ausschließlich“ die Überzeugung des Gerichts aufgrund des von ihm festgestellten Sachverhalts. Schöffen sollten sich diesen Satz merken. Verfahren, in denen nach Verlesung der Anklage der Vorsitzende zügig erörtert, was sich „das Gericht“ für den Fall eines Geständnisses als Strafe vorstellt, die Schöffen aber aus eigenem Wissen keine Erkenntnisse über den Fall haben, sondern höchstens Hinweise durch Vorsitzenden oder Berichterstatter, entsprechen nicht den Vorgaben des BVerfG.
Zur Feststellung der rechtstatsächlichen Situation hatte das Gericht bei dem insoweit mit Vorerfahrung ausgestatteten Düsseldorfer Rechtsprofessor Karsten Altenhain ein Gutachten über die Praxis der Verständigung in Auftrag gegeben. Dessen Ergebnisse waren besorgniserregend, was in den Tatgerichten unter der „Bindung des Richters an Recht und Gesetz“ verstanden wurde. Fast 60 % der befragten Richter gaben an, den Großteil ihrer Absprachen ohne Protokollierung zu treffen. Nur 28 % der Richter prüften, ob das Geständnis glaubhaft war. 33 % der befragten Richter gaben an, außerhalb der Hauptverhandlung Absprachen geführt zu haben, ohne dass dies in der Hauptverhandlung offengelegt wurde, während rund 42 % der Staatsanwälte und knapp 75 % der Verteidiger angaben, dies schon erlebt zu haben.
3. Bundesministerium der Justiz
2020 gab das BMJ eine Studie zur Praxis der Verständigung in Auftrag, in der Altenhain/Jahn/Kinzig zu dem wenig überraschenden Ergebnis kamen, dass nach wie vor informelle (rechtswidrige) Absprachen keine Seltenheit waren.17 Über ein Viertel (29,4 %) der befragten Richter räumte eine informelle Verständigung ein, Staats- und Rechtsanwälte in noch höherem Maße (46,7 % bzw. 80,4 %). Für Richter und Staatsanwälte lagen die Gründe für eine Absprache mit einem – nach ihrer Ansicht – zu milden Strafmaß in der Entbehrlichkeit einer weiteren Beweisaufnahme und der damit verbundenen Verfahrensbeschleunigung. Die Verteidiger begrüßten die Absprache, weil sie zu günstigeren Ergebnissen für den Angeklagten führe.
Die Untersuchung vermerkte Verstöße gegen
- die Transparenz- und Dokumentationspflichten; Verständigungsgespräche wurden weder in den Akten vermerkt noch in der Hauptverhandlung bekannt gegeben;
- das Verbot des Rechtsmittelverzichts;
- den Ausschluss der Punktstrafe, die selbst dann noch sichtbar war, wenn – formal korrekt – ein Strafrahmen „von … bis“ protokolliert wurde, weil sich die erkannte Strafe immer im unteren Drittel des Rahmens bewegte („verkappte Punktstrafe“).
Bisherige Studien hatten die Berufsjuristen im Auge; Schöffen wurden eher beiläufig erwähnt. Die 2020er-Studie stellte zur Rolle der Schöffen zum einen fest, dass sie häufig übergangen, manchmal sogar getäuscht wurden, zum anderen vieles hinnahmen, ohne zu hinterfragen, weil sie über keine Kenntnisse verfügten.
4. Untersuchung zu Schöffen
Nach meiner Rezension des Gutachtens von Altenhain/Jahn/Kinzig hatte ich Kontakt mit einem Autor der Studie und regte die Untersuchung der Verständigung mit Schwerpunkt auf die Schöffen an. 2023 erschien das Ergebnis einer Befragung von knapp 9.000 Schöffen.18 Ein Drittel der Befragten meinte, bei allen Absprachen ihres jeweiligen Spruchkörpers nicht aktiv beteiligt gewesen zu sein. Es dürfte noch ein Dunkelfeld geben. Bei Verstößen gegen das Transparenzgebot können diejenigen, die eine verdeckte Verständigung nicht bemerken, ihre Nichtteilnahme auch nicht bekunden. Von den 9.000 Befragten hatten gut zwei Drittel Kenntnis von Absprachen in ihren Verfahren, wovon wiederum 75 % an einem Gespräch teilgenommen haben. Wie groß das Risiko einer Fehleinschätzung – oder schlichten Unwissens – ist, zeigt die Tatsache, dass über 80 % aller knapp 9.000 Befragten der Ansicht waren, auch ohne Kenntnis der Akten über die wichtigsten Inhalte des jeweiligen Strafverfahrens im Bilde gewesen zu sein.
IV. Fazit
Schöffen, die in ein Verfahren geraten, in dem mit den gesetzlichen Vorgaben großzügig umgegangen wird, könnten rechtsstaatlich heilsam wirken, weil ihre mangelnde Aktenkenntnis sie „eigentlich“ dazu zwingt, die Beweise einzufordern, auf die sie ihre Meinung stützen wollen. Das hat nichts mit Jura zu tun. Dass eine Meinung zu begründen ist, ist spätestens nach der Grundschule Allgemeinbildung, um wieviel mehr, wenn sie mit der Befugnis zum Eingriff in Grundrechte verbunden ist. Das BVerfG hatte in seiner Grundsatzentscheidung eindringlich gemahnt, der Gesetzgeber müsse „die weitere Entwicklung sorgfältig im Auge behalten. Sollte sich die gerichtliche Praxis weiterhin in erheblichem Umfang über die gesetzlichen Regelungen hinwegsetzen und das Verständigungsgesetz nicht ausreichen, um das festgestellte Vollzugsdefizit zu beseitigen, muss der Gesetzgeber der Fehlentwicklung durch geeignete Maßnahmen entgegenwirken. Unterbliebe dies, träte ein verfassungswidriger Zustand ein“.19 Was zu beweisen war! Im Zuge der Reform zur Strafprozessordnung sollte die von der Bundesjustizministerin eingesetzte Kommission die Auswirkungen von Verfahrensreformen auf die Beteiligung von Schöffen nicht außer Acht lassen.
V. Rechtsprechung seit 2020 (Auswahl)
1. Mitteilung über eine Verständigung
BVerfG, Beschluss vom 4.2.2020, Az.: 2 BvR 900/19
Die verfassungsrechtlichen Anforderungen an den Inhalt einer Mitteilung nach § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO über eine Verständigung verlangen, dass sich ihr hinreichend sicher entnehmen lässt, auf wessen Initiative das Gespräch geführt wurde, wer die Verständigung ins Spiel brachte, welches konkrete Angebot die Staatsanwaltschaft unterbreitete und welchen Standpunkt das Gericht vertrat; mitzuteilen ist auch, wenn das Gericht noch keinen Standpunkt eingenommen hatte.
Bei der Regelung der Verständigung kam es dem Gesetzgeber darauf an, die Transparenz der Hauptverhandlung und die Unterrichtung der Öffentlichkeit sicherzustellen. Transparenz und Dokumentation sollen eine effektive Kontrolle durch Öffentlichkeit, Staatsanwaltschaft und Rechtsmittelgericht ermöglichen und die Grundrechte des Angeklagten vor einem geheimen „Schulterschluss“ zwischen Gericht, Staatsanwaltschaft und Verteidigung schützen.
Mitzuteilen sind alle wesentlichen Elemente einer Verständigung, zu denen auch außerhalb der Hauptverhandlung geführte Vorgespräche zählen. Dies gilt auch, wenn eine Verständigung nicht zustande gekommen ist. Zum mitteilungsbedürftigen Inhalt der Gespräche gehört, welche Standpunkte die einzelnen Gesprächsteilnehmer vertreten haben, welche Seite die Frage einer Verständigung aufgeworfen hat und ob sie bei anderen Gesprächsteilnehmern auf Zustimmung oder Ablehnung gestoßen ist.
Volltext
BGH, Beschluss vom 12.1.2022, Az.: 4 StR 209/21
Die Mitteilungspflicht des Vorsitzenden über die Erörterung einer Verständigung außerhalb der Hauptverhandlung (§ 243 Abs. 4 Satz 1 StPO) hat den Zweck, einem Angeklagten, der an dem Verständigungsgespräch nicht teilgenommen hat, durch umfassende Unterrichtung seitens des Gerichts zu ermöglichen, eine sachgerechte autonome Entscheidung über sein Verteidigungsverhalten zu treffen. Zum anderen sollen Transparenz und Dokumentation zum Schutz des Angeklagten eine effektive Kontrolle des Verständigungsgeschehens durch Öffentlichkeit, Staatsanwaltschaft und Rechtsmittelgericht ermöglichen.
LAIKOS Journal Online 2023, S. 72
Volltext
2. Unzulässiger Inhalt einer Verständigung
BGH, Beschluss vom 3.12.2020, Az.: 4 StR 541/19
Schuldspruch sowie Maßregeln der Besserung und Sicherung dürfen nach § 257c Abs. 2 Satz 3 StPO nicht Gegenstand einer Verständigung sein. Über die bisherige Rechtsprechung hinaus hat der Gesetzgeber nicht nur die Sicherungsverwahrung, sondern sämtliche Maßregeln der Besserung und Sicherung aus den vereinbarungsfähigen Rechtsfolgen herausgenommen.
Volltext
BGH, Beschluss vom 9.10.2024, Az.: 5 StR 433/24
Der Verzicht auf sichergestelltes Geld oder andere Gegenstände ist keine verfahrensbezogene Maßnahme (des Gerichts) oder ein Prozessverhalten der Verfahrensbeteiligten im Sinne des § 257c Abs. 2 Satz 1 StGB. Die Verzichtserklärung des Angeklagten wäre nur dann ein zulässiger Verständigungsgegenstand im Sinne des § 257c Abs. 2 Satz 1 StPO, wenn sie eine Rechtsfolge darstellte, die Inhalt des Urteils oder eines dazugehörigen Beschlusses sein kann. Dies ist nicht der Fall.
Volltext
3. Besprechung über Verständigung mit den Schöffen
BGH, Beschluss vom 21.6.2022, Az.: 5 StR 38/22
Die Pflicht zur Mitteilung, ob vor der Hauptverhandlung Erörterungen über den Stand des Verfahrens mit der Möglichkeit einer Verständigung (§ 257c StPO) und ggf. des wesentlichen Inhalts stattgefunden haben, bezieht sich auf Gespräche zwischen dem Gericht und den Verfahrensbeteiligten, nicht auf Aussprachen innerhalb des Spruchkörpers. Eine gesonderte Mitteilung über eine etwaige Besprechung mit den Schöffen hinsichtlich eines Verständigungsvorschlags ist nicht erforderlich.
LAIKOS Journal Online 2023, S. 74
Volltext
BGH, Urteil vom 17.1.2024, Az.: 2 StR 459/22
Die Hauptverhandlung beginnt mit dem Aufruf der Sache. Die für diesen Sitzungstag bestimmten Schöffen sind zu Verhandlung und Entscheidung berufen. Bei frühzeitigen Beratungen über eine Verständigung dürfen die Berufsrichter die Schöffen in den Verfahrensstoff einführen.
LAIKOS Journal Online 2024, S. 161-162 mit Anm. Lieber
Volltext
4. Belehrungspflicht vor Zustandekommen einer Verständigung
BGH, Beschluss vom 30.3.2021, Az.: 2 StR 383/20
Eine Verständigung ist regelmäßig nur dann mit dem Grundsatz des fairen Verfahrens zu vereinbaren, wenn der Angeklagte vor ihrem Zustandekommen nach § 257c Abs. 5 StPO über deren nur eingeschränkte Bindungswirkung für das Gericht belehrt worden ist, wenn rechtlich oder tatsächlich bedeutsame Umstände übersehen worden sind oder sich neu ergeben haben.
Volltext
BGH, Beschluss vom 7.1.2025, Az.: 2 StR 330/24
Die Verständigung kommt nicht erst mit der Belehrung zustande, sondern bereits durch die Zustimmungserklärungen gemäß § 257c Abs. 3 Satz 4 StPO. Sie ist nur dann mit dem Grundsatz des fairen Verfahrens zu vereinbaren, wenn der Angeklagte vor ihrem Zustandekommen nach § 257c Abs. 4 und 5 StPO über deren nur eingeschränkte Bindungswirkung für das Gericht belehrt worden ist.
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BGH, Beschluss vom 26.8.2025, Az.: 5 StR 426/25
Voraussetzung für eine Heilung des Verstoßes bei unterbliebener oder verspäteter Belehrung ist eine rechtsfehlerfreie Wiederholung des betroffenen Verfahrensabschnitts, d. h. des Hinweises auf den Fehler und die daraus folgende Unverbindlichkeit der Zustimmung des Angeklagten, einer Nachholung der versäumten Belehrung sowie seiner erneuten – nunmehr verbindlichen – Zustimmung.
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5. Wegfall der Bindung an die Verständigung
BGH, Beschluss vom 17.2.2021, Az.: 5 StR 484/20
Wird das Verfahren, in dem es zu einer Verständigung gekommen war, ausgesetzt, entfällt die Bindung des Gerichts an die Verständigung. Der Wegfall führt grundsätzlich zur Unverwertbarkeit des Geständnisses in der neuen Hauptverhandlung. Eine Pflicht, den Angeklagten zu Beginn der neuen Hauptverhandlung über die Unverwertbarkeit früherer Geständnisse „qualifiziert“ zu belehren, besteht nicht, wenn dieser vor der Verständigung ordnungsgemäß nach § 257c Abs. 5 StPO belehrt worden war; es genügt, wenn er am Beginn der neuen Hauptverhandlung informiert wird, dass die Bindung an die Verständigung der ausgesetzten Hauptverhandlung entfallen ist.
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BGH, Beschluss vom 17.8.2023, Az.: 2 StR 164/23
Durch die Aussetzung einer Hauptverhandlung entfällt die Bindungswirkung einer getroffenen Verständigung. Dies zieht die Unverwertbarkeit des im Vertrauen auf ihren Bestand abgegebenen Geständnisses des Angeklagten in der neuen Hauptverhandlung nach sich. Der Neubeginn der Hauptverhandlung bringt es mit sich, dass alle Verfahrensschritte wiederholt werden müssen. Allein die Wiederholung der Verständigung kann die autonome Entscheidung des Angeklagten über eine Zustimmung zu der neuerlichen Verständigung und sein anschließendes Geständnis nicht sichern.
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VI. Literatur (Auswahl)
Bücher mit der Angabe Open Access sind über den Link kostenfrei herunterzuladen.
Karsten Altenhain; Ina Hagemeier; Michael Haimerl; Karl-Heinz Stammen: Die Praxis der Absprachen in Wirtschaftsstrafverfahren. Baden-Baden: Nomos-Verl.-Ges. 2007. 354 S. (Düsseldorfer rechtswissenschaftliche Schriften; Bd. 51)
Karsten Altenhain; Frank Dietmeier; Markus May: Die Praxis der Absprachen in Strafverfahren. Baden-Baden: Nomos-Verl.-Ges. 2013. 200 S. (Düsseldorfer rechtswissenschaftliche Schriften; Bd. 120)
Karsten Altenhain; Matthias Jahn; Jörg Kinzig: Die Praxis der Verständigung im Strafprozess. Eine Evaluation der Vorschriften des Gesetzes zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren vom 29. Juli 2009. Baden-Baden: Nomos Verl.-Ges. 2020. 539 S. E-Book (Open Access), DOI: 10.5771/9783748922094
Benedikt Iberl; Jörg Kinzig: Die Rolle der Schöffen bei Absprachen im Strafprozess. Ergebnisse einer Befragung von knapp 9.000 Laienrichtern. Baden-Baden: Nomos-Verl.-Ges. 2023. 175 S. E-Book (Open Access), DOI: 10.5771/9783748942634
Martin Niemöller/Reinhold Schlothauer/Hans-Joachim Weider, Gesetz zur Verständigung im Strafverfahren. Kommentar. München: Beck 2010. XII, 415 S.
Thomas Rönnau: Der Schöffe als „Marionette“ im Verständigungsverfahren. In: Stephan Barton (Hrsg.) u. a.: Festschrift für Reinhold Schlothauer zum 70. Geburtstag. München: Beck 2018, S. 367-379
Sascha Sebastian: Die Strafprozessordnung im Lichte verfahrensbeendender Verständigung. Eine Gegenüberstellung von inquisitorischem Grundmodell und adversatorischen Elementen. Halle (Saale): Universitätsverl. Halle-Wittenberg 2014. 57 S. (Hallesche Qualifikationsschriften; Bd. 4)
- Urteil vom 28.8.1997, Az.: 4 StR 240/97, BGHSt 43, S. 195-212. ↩︎
- Beschluss vom 3.3.2005, Az.: GSSt 1/04 [Abruf: 22.11.2025]. ↩︎
- Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren vom 29.7.2009, BGBl. I, S. 2353. ↩︎
- Matthias Jahn, in: Münchener Kommentar zur Strafprozessordnung, Bd. 2, 2. Aufl., 2024, Rn. 43 m. w. N. ↩︎
- Ebenda, Rn. 57 f. ↩︎
- BVerfG, Urteil vom 19.3.2013, Az.: 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11, Rn. 106 [Abruf: 22.11.2025]. ↩︎
- Ebenda, Rn. 68, 71. ↩︎
- EGMR, Urteil vom 12.6.2008, Az.: 26771/03 [Abruf: 22.11.2025]; vgl. Lieber/Sens, Fit fürs Schöffenamt, 3. Aufl., 2024, S. 193. ↩︎
- Detlev dealt noch immer, DER SPIEGEL online vom 27.11.2020 [Abruf: 22.11.2025] ↩︎
- Vgl. BVerfG, Urteil vom 19.3.2013 (Fn. 6), insbes. Rn. 78, 98. ↩︎
- Jahn (Fn. 4),Rn. 41. ↩︎
- Vgl. Karsten Gaede/Michael Kubiciel, Pro & Contra Einstellung des Ecclestone-Prozesses – Klug oder frech?, LTO vom 5.8.2014 [Abruf: 22.11.2025] ↩︎
- Jahn (Fn. 4), Rn. 156 m. w. N. zu Rechtsprechung und Literatur. ↩︎
- Sascha Sebastian, Die Strafprozessordnung im Lichte verfahrensbeendender Verständigung, 2014, S. 34 f. ↩︎
- Die Praxis der Absprachen in Wirtschaftsstrafverfahren. ↩︎
- Urteil vom 19.3.2013 (Fn. 6). ↩︎
- Die Praxis der Verständigung im Strafprozess. ↩︎
- Die Rolle der Schöffen bei Absprachen im Strafprozess. ↩︎
- Urteil vom 19.3.2013 (Fn. 6), Rn. 121. ↩︎
Zitiervorschlag: Hasso Lieber, „Erlaubte“ und „informelle“ Verständigung“ – Welche Rolle spielen die Schöffen?, in: LAIKOS Journal Online 3 (2025) Ausg. 3, S. 84-92.