KG: Urteilsabschrift für Schöffen
- Nach Beendigung des Verfahrens hat ein Schöffe einen Anspruch auf Überlassung einer Urteilsabschrift nur unter den Voraussetzungen von § 475 StPO.
- Allein der Antrag auf Überlassung einer Urteilsabschrift in anonymisierter Form eröffnet noch kein berechtigtes Interesse im Sinne von § 475 StPO. (Orientierungssätze des Gerichts)
KG, Beschluss vom 21.6.2024 – 3 Ws 25/24 – 161 GWs 86/24
Sachverhalt: Der Beschwerdeführer (Bf.) hat in einer großen Strafkammer als Schöffe mitgewirkt. Nach Schluss des Verfahrens bat er um eine Abschrift des Urteils. Der Kammervorsitzende lehnte dies ab mit der Begründung, dass die Voraussetzungen für die Übersendung einer Urteilabschrift nicht vorlägen. Der Bf. hat sich daraufhin gegen diese ablehnende Verfügung gewendet, seinen Antrag wiederholt und die Auffassung vertreten, Urteile als Teil der öffentlichen Rechtsprechung seien nicht geheim; § 475 StPO finde auf ihn keine Anwendung, zumal er die Übersendung einer Urteilsabschrift in anonymisierter Form beantrage. Der Beschwerde hat der Kammervorsitzende nicht abgeholfen.
Gründe: Der Bf. hat keinen Anspruch auf Übersendung einer Urteilsabschrift.
a) Die Befugnisse von Schöffen sind in §§ 30, 77 GVG abschließend geregelt. Danach üben sie das Richteramt während der Hauptverhandlung in vollem Umfang, mit gleichem Stimmrecht wie die Berufsrichter aus. Die Hauptverhandlung schließt gemäß § 260 Abs. 1 StPO mit der Verkündung des Urteils. Aus § 268 Abs. 2 Satz 1 StPO leitet sich ab, dass die Eröffnung der Urteilsgründe als Teil der Urteilsverkündung im Sinne von § 260 Abs. 1 StPO nicht gleichzusetzen ist mit der Absetzung des schriftlichen Urteils nach § 275 Abs. 1 StPO, die in der Regel nach Beendigung der Hauptverhandlung erfolgt. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beendigung des Schöffenamtes in einem konkreten Verfahren ist daher nicht die Absetzung der schriftlichen Urteilsgründe, sondern die Beendigung der Eröffnung der Urteilsgründe. In der Folge können Schöffen aus §§ 30, 77 GVG bereits ab diesem Zeitpunkt keine den Richtern zustehenden Rechte mehr ableiten, mithin auch keinen Anspruch auf Überlassen einer Urteilsabschrift. Sie sind nach der Urteilsverkündung im Hinblick auf ihre prozessualen Rechte als Privatpersonen zu behandeln.
b) Die Erteilung von Auskünften und Gewährung von Akteneinsicht (wozu auch die Überlassung einer Urteilsabschrift zählt, vgl. LG Bochum, NStZ 2006, S. 720) ist in den jeweiligen Prozessordnungen abschließend geregelt, für den Strafprozess in § 475 Abs. 1 StPO. Danach kann einer Privatperson Aktenauskunft erteilt werden, wenn sie hierfür ein berechtigtes Interesse darlegt (Satz 1) und schutzwürdige Interessen des davon Betroffenen dem nicht entgegenstehen (Satz 2). Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall nicht erfüllt, weil der Bf. kein berechtigtes Interesse dargelegt hat. Dass er beantragt hat, ihm eine Urteilsabschrift in anonymisierter Form zu überlassen, ändert daran nichts.
c) Ergänzend weist der Senat darauf hin, dass die in dem vom Bf. vorgelegten Informationsblatt der Deutschen Vereinigung der Schöffinnen und Schöffen enthaltene Aussage, ehrenamtliche Richterinnen und Richter sollen die Urteile, an denen sie mitgewirkt haben, auf Antrag anonymisiert zugeschickt bekommen, jedenfalls für den Anwendungsbereich der StPO einer rechtlichen Grundlage entbehrt. Für einen solchen Anspruch gibt es außerhalb von § 475 Abs. 1 StPO keinerlei Rechtsgrundlage. Das Informationsblatt suggeriert dadurch Rechte, die Schöffen objektiv nicht zustehen, und ist damit geeignet, eine gedeihliche Zusammenarbeit von Berufs- und Laienrichtern unnötig zu erschweren.
Anmerkung: Der Beschluss muss in Ziel und Zweck seiner Argumentation verwundern. Eine abgewogene Auseinandersetzung mit der Problematik findet nicht statt.
a) Den Schöffen nach Schluss der Hauptverhandlung mit einer Privatperson gleichzusetzen, vernachlässigt die Tatsache, dass der Schöffe als Mitglied des Gerichts – und damit für die Entscheidung Verantwortlicher – im Rubrum des Urteils aufgeführt ist. In Bezug auf diese Verantwortung bleibt er für die Zukunft Mitglied des erkennenden Gerichts. Zudem unterliegt er auch nach der Hauptverhandlung bestimmten Pflichten, wie etwa der Wahrung des Beratungsgeheimnisses. Dass derjenige, unter dessen Mitwirkung ein Urteil ergangen ist und der den Entscheidungsinhalt kennt, nicht einer Privatperson ohne Bezug zum Verfahren gleichzustellen ist, ist selbstverständlich, sodass es keiner den Anspruch begründenden Regelung bedarf und eine den Anspruch verneinende sinnlos ist.
b) Wie bemüht die Argumentation des KG ist, zeigt sich an der in Bezug genommenen Entscheidung des LG Bochum, dem ein ganz anderer Sachverhalt zugrunde liegt. Dort wird einem Wissenschaftler die Aushändigung eines – auch anonymisierten – Urteils verwehrt, weil auch nach Anonymisierung des Urteils der Verurteilte grundsätzlich bestimmbar bleibe. Ein solches Argument scheidet hinsichtlich des Schöffen aus, weil diesem der Verurteilte aus der Hauptverhandlung bekannt ist. Nach der Heranziehung einer nicht einschlägigen Norm wird deren Anwendung unter Bezugnahme auf einen nicht einschlägigen Sachverhalt begründet.
c) Dass die Schöffen in aller Regel die schriftlichen Urteilsgründe nicht zur Kenntnis nehmen, liegt an einer Norm, die das KG nicht erwähnt. Die erkennenden Richter unterschreiben die schriftlichen Urteilsgründe. Nach § 275 Abs. 2 Satz 3 StPO „bedarf“ es der Unterschrift der Schöffen unter dem Urteil nicht. Die Unterzeichnung durch die Schöffen ist also verzichtbar, nicht etwa verboten. Die Vorschrift schließt sie auch nicht von der Kenntnisnahme der schriftlichen Urteilsgründe aus.1 Sie mutieren deshalb gerade nicht zu „Privatpersonen“, die ein „berechtigtes Interesse“ tatsächlicher, wirtschaftlicher oder ideeller Art im Sinne des § 475 StPO nachweisen müssen.2
d) Wohl eher zufällig offenbart der Senat die Motivation für seine Auffassung: Er weist darauf hin, dass die mündliche Verkündung der Urteilsgründe „nicht gleichzusetzen ist mit der Absetzung des schriftlichen Urteils“. Das ist korrekt. Die schriftlichen Gründe sind regelmäßig ausführlicher, differenzierter, ggf. wissenschaftlicher als die mündliche Begründung, die „die Säulen“ der Argumentation wiedergibt. Keinesfalls dürfen aber die schriftlichen Gründe in Widerspruch zu denen in der mündlichen Beratung stehen. Dass die Schöffen an der Kenntnisnahme daran ein Interesse haben können, hat – neben einer Reihe anderer – in besonderer Weise der „Fall Josefine“ des LG Limburg in der Revision beim BGH deutlich gemacht, als der Vorsitzende des Senats klare Worte zur Abweichung der schriftlichen Urteilsgründe zum Urteilstenor fand.3 Die Schöffen hatten gegen die Auffassung der Berufsrichter, die den Anklagevorwurf eines Totschlags unterstützten, eine Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung durchgesetzt. Der BGH hat das Urteil nicht deswegen aufgehoben, weil er der Auffassung der Berufsrichter war, sondern weil die Urteilsbegründung mangelhaft war. Einen berühmten Vorläufer hatte dieser Fall mit dem ersten (freisprechenden) Urteil im Wiederaufnahmeverfahren gegen Monika Böttcher-Weimar, bei dem die beiden Schöffinnen eine Verurteilung blockierten und die Art und Weise der durch die Berufsrichter abgefassten Urteilsgründe zur Aufhebung durch den BGH führten. Die Schöffen von der Kenntnis der Urteilsabschrift auszuschließen, weil die schriftliche Begründung von der mündlichen Beratung abweicht, ist eine Verletzung des gesetzlich garantierten Status in der Hauptverhandlung. Insoweit wirkt ihre Stellung über das Ende der Verhandlung hinaus.
e) Das Bild, das der Senat mit seiner Entscheidung bietet, wird dadurch abgerundet, dass er sich der Maßregelung einer Meinung, die in einem Informationsblatt der DVS geäußert wird, nicht enthalten kann. Dass das Informationsblatt geeignet sei, die „gedeihliche Zusammenarbeit von Berufs- und Laienrichtern unnötig zu erschweren“, bleibt ohne Begründung. Insoweit erweist sich die Wahrheit des Wortes von Gustav Heinemann, dass derjenige, der mit dem Finger auf andere zeigt, gewärtig sein muss, dass drei Finger auf ihn zurückzeigen. Wie der weiland Präsident des OVG Brandenburg-Berlin Kipp für die ehrenamtlichen Richter der Verwaltungsgerichtsbarkeit betonte, „könne das Interesse und Engagement der ehrenamtlichen Richter für ihr Amt (…) dadurch gesteigert werden, dass man ihnen – jedenfalls bei interessanteren Fällen – zumindest nachträglich eine Urteilsabschrift zukommen lässt“.4 Warum für die ehrenamtlichen Richter der Strafgerichtsbarkeit anderes gelten soll, erschließt sich nicht, schon gar nicht aus der Begründung des KG. (hl/us)
Link zum Volltext der Entscheidung
- Vgl. Pauly, in: Radtke/Hohmann, StPO, § 275 Rn. 11; ebenso Peglau, in: Graf, StPO, § 275 Rn. 24. ↩︎
- Singelnstein, in: Münchener Kommentar zur StPO, Bd. 3, § 475 Rn. 15 m. w. N. ↩︎
- BGH, Urteil vom 31.3.2021, Az.: 2 StR 109/20; vgl. dazu Hasso Lieber, Vorsatz oder Fahrlässigkeit – Totschlag oder Tötung, RohR 2021, S. 57, 58 f. (Fall 2). ↩︎
- Jürgen Kipp/Hasso Lieber, Einführung in die Verwaltungsgerichtsbarkeit für ehrenamtliche Richterinnen und Richter, RohR 2010, S. 48 ff. ↩︎
Zitiervorschlag: KG: Urteilsabschrift für Schöffen, in: LAIKOS Journal Online 3 (2025) Ausg. 1, S. 24-25.