M. Mahlmann: Konkrete Gerechtigkeit
Matthias Mahlmann: Konkrete Gerechtigkeit. Eine Einführung in Recht und Rechtswissenschaft der Gegenwart. 7. Aufl. Baden-Baden: Nomos-Verl.-Ges.; Basel: Helbing & Lichtenhahn 2024. 302 S. (Nomos-Studium) Print-Ausg.: ISBN 978-3-7560-1479-8 € 29,90; E-Book: € 29,90
Gerechtigkeit ist ein viel gewünschter und zitierter, aber unterschiedlich interpretierter Begriff. Die „Einführung“ ist schon im Titel durch die „konkrete“ Gerechtigkeit von der Gefahr bloß abstrakt-theoretischer Betrachtung befreit. Dadurch wird das Buch mehr als nur eine Einführung in die Rechtswissenschaft für Studenten. Es enthält eine strukturierte Analyse des Rechts, in der die Beantwortung der Frage, was als Recht – im Sinne von „richtig“ – betrachtet und akzeptiert wird, wesentlich von dem übergeordneten Kriterium der Gerechtigkeit abhängt, dessen jeweilige Definition das Verständnis von Funktion oder Architektur des Rechts(systems) prägt. Überzeugend zitiert der Autor den britischen Rechtsphilosophen H. L. A. Hart: „Das Recht ist viel zu wichtig, als dass man es den Juristen überlassen könnte“ (Essays on Bentham, 1982).
Vom Recht als soziale Tatsache, dem Zusammenwirken von Recht, Wirtschaft, Politik und Religion gelangt der Autor zur Betrachtung einer Gerechtigkeit, die – schon auf Aristoteles zurückgehend – eng mit Gleichheit verbunden ist. Der griechische Philosoph hat in austeilende und ausgleichende Gerechtigkeit unterschieden. Die Verbindung von Gleichheit und Gerechtigkeit schlägt sich in dem Grundsatz nieder, dass Gleiches gleichbehandelt wird, wesentlich Ungleiches nach Art und Maß entsprechend unterschiedlich zu behandeln ist, weil eine willkürliche oder gleichgültige Gleichbehandlung ihrerseits ungerecht wäre. Quellen von der Apostelgeschichte bis Marx leiten daraus ab: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinem Bedürfnis“ – unter der Voraussetzung entsprechender Ressourcen.
Das Buch regt zum Weiterdenken an, womit es nicht nur für den künftigen Juristen, sondern in weiten Teilen auch für die im Ehrenamt tätigen Richter von Interesse sein wird. Ehrenamtliche Richter der Arbeitsgerichte stehen heute nicht selten vor der Frage, ob die Geltendmachung eines Schadenersatzes nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) der Wiedergutmachung einer ungerechten Behandlung entspringt oder bereits zum Geschäftsmodell mutiert ist – eine Fallgestaltung, die der Rezensent aus Erfahrung nur sehr ungern auf den Einzelrichter übertragen sieht, bei dem „die Gewohnheit häufig die Gerechtigkeit aus dem einzigen Grund schafft, dass sie angenommen wird“ (Blaise Pascal, Pensées – Gedanken). Wegen des strukturierten Aufbaus und der differenzierten Betrachtungsweise von Grundsätzen wie Recht, Gerechtigkeit, Gleichheit, Menschenwürde usw., die in der Praxis allzu häufig stereotyp verwendet werden, kann das Buch auch dem nichtjuristischen Leser empfohlen werden.
Nicht zufällig schließt das Buch mit einem Kapitel vom Recht in der Kunst. Schauspiel und Gedicht erzählen von den Regeln und ihren Ausnahmen: Vom Tyrannenmord des Wilhelm Tell entgegen dem fünften Gebot im Namen der Freiheit, von der Rettung des Antonio durch einen „juristischen“ Trick, der ihn vor der Forderung auf ein Pfund Fleisch aus seinem Körper als Zinsen für ein Darlehen des Shylock bewahrt, in Shakespeares „Kaufmann von Venedig“, vom Freispruch des Muttermörders Orestes durch Athene bei Stimmengleichheit im Areopag in der Orestie des Aischylos. Auch Goethe mahnte den göttlichen Richter Mahadö in „Der Gott und die Bajadere“ mit deutlichem Blick auf menschliche Richter: „Soll er strafen oder schonen, muss er Menschen menschlich seh‘n.“ (hl)
Zitiervorschlag: Hasso Lieber, M. Mahlmann: Konkrete Gerechtigkeit [Rezension], in: LAIKOS Journal Online 3 (2025) Ausg. 2, S. 74.