Sind Schöffen „überholte Ornamente des Misstrauens“?
Editorial: Vorabdruck – Ausgabe 1/2025 erscheint am 16. Mai 2025
Liebe Leserinnen und Leser,
in den vergangenen Wochen waren Schöffen erneut Anlass für Schlagzeilen. Harry Oliver Gerson forderte in LTO vom 8. April 2025 in einem Rundumschlag, die Schöffen abzuschaffen oder zumindest eine Reform noch vor Beginn der neuen Amtsperiode 2029.1 Die Beteiligung von Schöffen habe nahezu keinen Mehrwert, da sie nicht über Kenntnisse der Subsumtion und der juristischen Fachsprache verfügten, eine effektive Kontrolle spricht er ihnen auch ab, durch Mängel bei der Schöffenwahl werde die Justiz durch rechtsextreme Schöffen unterwandert. Er liegt aber völlig daneben, diese Entwicklung mit dem Niedergang der Telefonzelle zu vergleichen. Mit dem Mobile hat heute jeder die eigene Telefonzelle in der Tasche. Gersons Vergleich mit der Streichung von Schöffen hätte für die Telefonkommunikation bedeutet: Zelle weg, Kommunikation beendet. Eine Stellungnahme hierzu lesen Sie in LTO.2
Wenige Tage später veröffentliche Beck-aktuell einen Beitrag mit einer Reihe von Fauxpas, die zum Ausschluss von Schöffen wegen einer Besorgnis der Befangenheit führten: in der Hauptverhandlung eingeschlafen, auf dem Handy private Notizen aufgeschrieben oder Nachrichten gelesen, Süßigkeiten verteilt oder ausländer- und islamfeindliche Posts in den sozialen Medien veröffentlicht.3 Am Landgericht Köln platzte am 12. März 2025 ein Prozess, weil ein Schöffe nach zweistündiger Verspätung mit einer Alkoholfahne bei Gericht erschien.4 Die Mitglieder der Vorschlags- und Wahlgremien sollten sich Gedanken machen.
Das Kammergericht in Berlin reiht sich in die Front derer ein, die das Schöffenamt schwächen, mit einer Entscheidung zur Frage, ob Schöffen das Recht haben, die Urteilsgründe einzusehen. Wie man auf die Idee kommen kann, einen an der Urteilsfindung Beteiligten mit einer Privatperson gleichzustellen, muss das Geheimnis der Senatsmitglieder bleiben. Die Urteilsgründe verraten uns das jedenfalls nicht, weil sie an die falsche Norm anknüpfen und die richtige unerwähnt lassen.
Eine Bemerkung zur Rechtspolitik: Ohne in dem Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD ausdrücklich angesprochen zu sein, soll es künftig der Beteiligung der Zivilgesellschaft an der Rechtsprechung an den Kragen gehen. Die Dauer der Verfahren soll durch Begrenzung der zweiten Tatsacheninstanzen verkürzt werden. Das bedeutet in Straf- und Verwaltungsgerichtsbarkeit die Verringerung von Verfahren mit ehrenamtlichen Richtern. Gleiches gilt – in allen Gerichtsbarkeiten – für die Forderung nach vermehrtem Einsatz von Einzelrichtern.5 Kombiniert mit der Gerson’schen Forderung nach Abschaffung der Schöffen heißt dies: Vorrang den Rechtsfragen, weniger Beschäftigung mit den Menschen. Ergänzt wird dies durch die mehrfach im Koalitionsvertrag erhobene Forderung nach „Verschärfung des Strafrechts“ – neue Tatbestände, härtere Strafen.6 Die Maxime moderner Politik: Ein Problem? – Da machen wir schnell ein Gesetz. Problem gelöst.
Betrachtet man diese Entwicklungen im Zusammenhang – Einschränkung zivilgesellschaftlicher Beteiligung bei der Ausübung von Staatsgewalt, mangelhaftes Engagement bei der Mobilisierung geeigneter Bewerber für das richterliche Ehrenamt, mehr und höhere Strafen als Reaktion auf gesellschaftliche Entwicklungen – dann fällt den Älteren unter uns die Regierungserklärung von Willy Brandt am 28. Oktober 1969 ein: „Wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie, wir fangen erst richtig an.“ Für etliche scheint alles Notwendige bereits getan zu sein. Für die Demokratie in der Rechtsprechung (vgl. Art. 20 Abs. 3 GG) gilt das Knef’sche Theorem: Von nun an geht’s bergab.
Wir wünschen Erkenntnisgewinn beim Lesen
Hasso Lieber & Ursula Sens
- Harry Oliver Gerson, Schöffen im Strafverfahren: „Überholte Ornamente des Misstrauens“, Legal Tribune Online vom 8.4.2025 [Abruf: 24.4.2025]. ↩︎
- Hasso Lieber, Reaktion auf LTO-Gastbeitrag zur Einschränkung und Abschaffung der Schöffenbeteiligung. Besser weniger Einzelrichter, Legal Tribune Online vom 3.5.2025 [Abruf: 3.5.2025]. ↩︎
- Maximilian Amos, Schreiben, schlafen, Schokolade schenken: Was Schöffen besser lassen sollten, Beck-aktuell vom 12.4.2025. ↩︎
- Hendrik Pusch, Schöffe taucht mit Alkoholfahne auf – Prozess um Geiselnahme geplatzt, Kölner Stadtanzeiger vom 13.3.2025 [Abruf: 24.4.2025]. ↩︎
- Verantwortung für Deutschland. Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD, 2025, „Reformen des Verfahrensrechts“, S. 63 f. ↩︎
- Verantwortung für Deutschland. Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD, 2025, „Strafrecht“, S. 89 ff. ↩︎
Zitiervorschlag: Hasso Lieber/Ursula Sens, Sind Schöffen „überholte Ornamente des Misstrauens“? [Editorial], in: LAIKOS Journal Online 3 (2025) Ausg. 1, S. 3.