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J. Andruchowytsch: Die Lieblinge der Justiz

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Juri Andruchowytsch: Die Lieblinge der Justiz. Parahistorischer Roman in achteinhalb Kapiteln. Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr. Berlin: Suhrkamp 2020. 296 S. ISBN 978-3-518-42906-8, € 23,00

Wollte man für diesen Roman des ukrainischen Schriftstellers eine Kategorie finden, so wäre es die „dialektische Einheit des Widerspruchs“. Das beginnt mit Titel und Untertitel des Buches. Die „Lieblinge“ der Justiz sind allesamt Mörder, Gewalttäter. Einer aus dem 17. Jahrhundert ist der „früh verdorrte und unglücklich vergessene Spross am Baum unseres nationalen Banditentums“, ein opiumsüchtiger Marodeur, der gerne ein Robin Hood gewesen wäre, aber die Bedürftigen nicht erreichte. Diese Diktion charakterisiert die Erzählungen. Sie sind ein Genuss für alle, die die Bandbreite von „schwarzer Humor“ bis „sarkastisch ohne zynisch zu werden“ lieben. Historisch sind die Erzählungen, weil sie reale Fälle in der Ukraine zum Gegenstand haben – mit Auswirkungen bis in die Bundesrepublik der 1960er-Jahre. Diese auch deutsche Geschichte hat einen Protagonisten, der – beim Schwarzfahren erwischt – zum genialen Auftragskiller des sowjetischen Geheimdienstes umgeschult wird, sich in eine deutsche Frau verliebt und – historisch um wenige Tage nicht ganz korrekt angegeben – in der Nacht vor dem Mauerbau mit der S-Bahn von Ost nach West emigriert und sich den Behörden stellt. Im Westen erfanden die Strafgerichte extra eine neue Theorie, um zu verhindern, dass man ihn wegen Mordes zu „lebenslang“ verurteilen musste. Nach vier Jahren war er – mit 35 am Beginn seines künftigen Lebens – auf freiem Fuß und freute sich des Daseins, mutmaßlich im Dienst der Amerikaner.

Ebenfalls eine deutsch-ukrainische Komponente hat der Fall des Schwaben Julius Grodt, dessen besondere Fähigkeiten ihn für andere Menschen abstoßend machten – für seinen Vater war es sein Lerneifer, für seine dörflichen Mitbewohner, dass er mehrere seiner Mägde umbrachte. Durch die Berichte des Theologen und Philosophen Johann Caspar Lavater aus dem Jahre 1775 erhielt Grodt eine historische Rolle, eine literarische durch Andruchowytsch. Auch die letzte Geschichte hat einen deutschen Bezug, weil im von den Deutschen besetzten Geburtsort des Autors 1943 insgesamt 27 „Feinde des Dritten Reichs“ öffentlich hingerichtet wurden. Parahistorisch ist das Buch, weil es mit den zeitlichen Zusammenhängen großzügig umgeht. So wird in der ersten Geschichte der Tod des Helden im Jahr 1632 „mit versteckter Kamera für YouTube festgehalten“. Auch als Roman im klassischen Sinne kann man die Gesamtheit der Erzählungen nicht bezeichnen, denn es gibt keine fortlaufende Handlung, nicht einmal eine historische Reihenfolge. Die Geschichten pendeln zwischen den Jahrhunderten und haben eine gleiche Zielrichtung: die erschreckende Alltäglichkeit des Außergewöhnlichen. (hl)

Zitiervorschlag: Hasso Lieber, J. Andruchowytsch: Die Lieblinge der Justiz [Rezension], in: LAIKOS Journal Online 1 (2023) Ausg. 1, S. 46-47.

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