B. Burghardt; A. Schmidt; L. Steinl (Hrsg.): Sexuelle Selbstbestimmung jenseits des Körperlichen
Boris Burghardt; Anja Schmidt; Leonie Steinl (Hrsg.): Sexuelle Selbstbestimmung jenseits des Körperlichen. Tübingen: Mohr Siebeck 2024. VIII, 262 S. Print-Ausg.: 978-3-16-162133-8 € 79,00; E-Book (kostenfrei) DOI 10.1628/978-3-16-163984-5
In vier Teilen nehmen die Autoren eine Beschreibung und eine rechtliche Ableitung von nicht-körperlichen Verletzungen der „sexuellen Selbstbestimmung“ vor. Im ersten Teil wird historisch, politisch und verfassungsrechtlich die sexuelle Selbstbestimmung als individuelles Recht und Leitbegriff individuellen wie gesellschaftlichen Verhaltens untersucht. Die Trennung der Sexualität als nicht moralische, sondern naturwissenschaftliche Kategorie fällt dabei nicht immer leicht. Stoff verweist in seinem Beitrag darauf, dass der „sexuellen Selbstbestimmung“ auch eine moralische Funktion zukomme. Im zweiten Teil werden die nicht-körperlichen Dimensionen der sexuellen Privatsphäre und die Eingriffe darin beschrieben. Bei diesen muss man sich zunächst mit einer Reihe von Anglizismen befassen, die an einer Stelle (S. 113) insoweit richtig als „verniedlichend“ etikettiert werden. Diese distanzierten Beschreibungen von „Catcalling“, „Upskirting“ oder „Revenge Porn“ stehen in Widerspruch zu den in den Beiträgen herausgearbeiteten Reaktionen auf Beeinträchtigungen betroffener Personen, die bis zum Suizid reichen. Warum für Verhaltensweisen wie Revenge Porn (Rachepornografie) keine deutschen Begriffe zur Verfügung stehen, unter denen sich die – insbesondere schlichteren – Adressaten des Verbotes dieser Taten unmittelbar etwas vorstellen können, erschließt sich nicht. Insoweit bleibt man bei der Praxis, die sich im geltenden Recht z. B. in der Bezeichnung der „Erregung öffentlichen Ärgernisses“ niederschlägt, bei der die Tatfolgen durchaus gravierender als nur „Ärger“ erregend sein können. Der dritte Teil befasst sich mit der Legitimität der Kriminalisierung dieser Verhaltensweisen. Im Vordergrund steht dabei zunächst die Frage, welches Rechtsgut geschützt werden soll. Weigend sieht es in der sexuellen Autonomie. Deren Verletzung erfordert eine Beeinträchtigung von gewisser Erheblichkeit. Mit Recht berücksichtigt er dabei die gewachsene Resilienz von Frauen gegenüber männlichem Macht- und Imponiergehabe. Damit vermeidet der Autor den Rückfall in allzu schnelle Rufe nach dem Strafrecht. Dem kann nur zugestimmt werden, wenn in anderen Beiträgen als verbotenes Tun bereits „aufdringliche Blicke“ als Merkmale strafwürdigen Verhaltens zitiert werden. Zu Recht wird an vielen Stellen darauf hingewiesen, dass ein Gutteil der Debatten auch einer allzu restriktiven Rechtsprechung zum Beispiel bei der Beleidigung geschuldet ist. Der Band setzt im vierten Teil mit Überlegungen fort zu nicht-strafrechtlichen Antworten auf Beeinträchtigungen der sexuellen Selbstbestimmung ohne körperlichen Übergriff. Ballon befasst sich mit notwendigen Regulierungen von Online-Plattformen, die in dem hier behandelten Metier quantitativ wie qualitativ die herausragenden Ursachen für Diskriminierungen auf sexueller Basis darstellen. Abschließend kritisiert von Wulfen, dass die Rechtsprechung an einem Stufenverhältnis zwischen verbalem und körperlichem Angriff auf die sexuelle Selbstbestimmung festhält. Diese macht aber insoweit Sinn, als sich auch der körperlich Unterlegene mit Schlagfertigkeit, Missachtung und ähnlichen Reaktionen gegen verbale Angriffe zur Wehr setzen kann. Allerdings sind solche Reaktionen in der strafrechtlichen Praxis noch nicht angekommen, wie der Rezensent erlebte. Die Angegriffene eines (neuhochdeutschen) „Revenge Porn“ nach Beendigung einer Beziehung reagierte auf die Drohung mit der Veröffentlichung von Nacktbildern im Netz mit der lässigen Bemerkung „love my body“, was das Gericht nicht als Schutzreaktion, sondern Gleichgültigkeit auslegte und damit das Fehlen einer Beeinträchtigung feststellte. Die Lektüre der hier rezensierten Schrift hätte dem Gericht weitergeholfen. Auf dem Weg zur Abgrenzung von ironischen Bemerkungen zu schlechtem Benehmen und strafrechtlich relevantem Verhalten darf das Buch als Wegweiser betrachtet werden. (hl)
Zitiervorschlag: Hasso Lieber, B. Burghardt; A. Schmidt; L. Steinl (Hrsg.): Sexuelle Selbstbestimmung jenseits des Körperlichen [Rezension], in: LAIKOS Journal Online 1 (2025) Ausg. 1, S. 33-34.