U. Guérot: ZeitenWenden – Skizzen zur geistigen Situation der Gegenwart
Ulrike Guérot: ZeitenWenden – Skizzen zur geistigen Situation der Gegenwart. Neu-Isenburg: Westend-Verl. 2025. 224 S. ISBN 978-3-86489-485-5 € 24,00
„Ich habe nicht mehr viel zu verlieren“, verkündet uns Ulrike Guérot in ihren „Skizzen zur geistigen Situation der Gegenwart“ freimütig und liefert die Abrechnung mit der „extremisierten Mitte“ in einem maliziösen Spaziergang durch die „Zeitenwenden“ gleich mit: Abschied von dieser Art Demokratie, Abschied von der Vernunft, Abschied von dieser Art Europa. Von Plato bis Sartre, von Kant bis Winkler bedient sie in wechselnden Bildern den Reißwolf, um die Fassade der „simulativen Demokratie“ (Ingolfur Blühdorn) einzureißen, in der die „Polis“ (Aristoteles) der „Stasis“ (Giorgio Agamben) gewichen ist, einer „gestockten Gesellschaft“, die nicht mehr zu Kompromissen fähig ist, sondern in der Sehnsucht nach Eindeutigkeit, erstarrt in „political correctness“, die res publica strukturell reformunfähig macht: „form follows function“ vice versa „function follows form“. Eine Gesellschaft, in der dem Menschen in der Pandemie das Klopapier zu kaufen empfohlen wurde, gleichzeitig dem Bürger die Grundrechte gestohlen wurden. Sie folgert: „Je unbestimmter die Rechtsbegriffe, desto autoritärer das System.“
Sie geißelt das Versagen des Staates, das Denken in Geiselhaft zu nehmen: „Demokratie ist eine permanente Revolte“ – kein Zustand, sondern ein Prozess. Die Ausgeburten der Bildungs-, Sprach- und Denkarmut seien mittlerweile in Amt und Würden ins „Zeitalter der Geistlosigkeit“ aufgestiegen – allein dies sei keine Zeitenwende mehr, sondern ein „Epochenbruch“, in der die KI als Höchststufe geliehenen Verstandes, nicht aber mehr als Vernunft agiert. Unterstützt – „follow the science“ – durch eine Wissenschaft, die sich mit der ihr gewährten Drittmittelfinanzierung zum gemieteten „Wahrsager“ macht – aus Lehrstühlen werden Leerstühle.
Angelehnt an ihre Schrift „Endspiel Europa“ sucht sie nach einer angemessenen Identität Europas, gewachsen aus der Vielfalt ihrer Herkünfte, Sprachen und Kulturen, die sich in der „pax americana“ – der Einheit von EU und NATO – nicht bewahren lässt, sondern politisch im „american way of life“ verkommt. Sie fordert ein neues Denken wie eine neue Ordnung, die sie in einer Neutralität Europas – ohne NATO – als Friedensprojekt findet, das föderal, regional, sozial und friedlich „in vielem eins“ ist. Dieses Ziel ist, findet sie, politisch mit den imperialen Zielen der USA/NATO nicht, wohl aber mit einem in die Sicherheitsstruktur Europas eingebundenen Russland, wirtschaftlich nicht mit dem gegenwärtigen Raubtierkapitalismus zu erreichen, der sich die Politik als Sklavin hält.
Wer sich an die Deutung der „Zeitenwende“ als Verschlüsselung einer Kriegslüsternheit wagt und sich politisch daran stößt, dass die Lüge von gestern nicht mit der Wahrheit von heute entlarvt, sondern mit der Lüge von morgen verschleiert wird, findet in den Skizzen von Ulrike Guérot ausreichend Nahrung und Sichtung. Sie begibt sich mutig und unerschrocken an die Klärung substanzieller Begrifflichkeiten wie Demokratie und Liberalismus und deren Verbrämung im „wehrhaften Staat“, in dem die „Volksvertreter“ von gestern mit der Regierungsbildung merklich zu „Staatsvertretern“ werden, die den Souverän als Gegner erfahren, der sich der politischen Korrektheit entzieht. Sie fordert, den Bürger nicht weiter zu entmündigen, sondern als gärende Hefe im System eines demokratischen Prozesses wieder zu entdecken, um die Risse in der Gesellschaft zu kitten und jene Demokratie zu wagen, in der die Freiheit gegen die Angst verteidigt wird.
Albert Klütsch, Wesseling, ehem. Mitglied des Landtags NRW
Zitiervorschlag: Albert Klütsch, U. Guérot: ZeitenWenden – Skizzen zur geistigen Situation der Gegenwart [Rezension], in: LAIKOS Journal Online 3 (2025) Ausg. 2, S. 72-73.